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Beitrag vom 14.11.2018
Die andere Seite von allem - Ein Film von Mila Turajlić (Cinema Komunisto). Kinostart: 15. November 2018
Tina Schreck
Hauptschauplatz des preisgekrönten Dokumentarfilms der serbischen Filmemacherin und ersten Präsidentin von DokSerbia, der von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat besonders wertvoll ausgezeichnet wurde, ist die Belgrader Wohnung ihrer politisch engagierten Mutter Srbijanka, die im Jahre 2000 als Mitglied der "Otpor!"-Bewegung maßgeblich am Sturz von Slobodan Milošević beteiligt war. Geschickt gelingt es Mila Turajlić, die eigene Familien- und Landesgeschichte bis hin zum Rechtsruck in ganz Europa und auf die Verantwortung, die jede Generation trägt, zu erweitern.
"Ich bin 1979 geboren und war ein Jahr alt als Tito starb. Als Milosevic an die Macht kam, war ich 11 Jahre alt, dann begann der Krieg im ehemaligen Jugoslawien und endete als ich 16 Jahre wurde. Mit 20 bombardierte uns die NATO, mit 21 wurden wir Milosevic endgültig los, mit 24 Jahren wurde unser Premierminister umgebracht und heute mit 37 Jahren möchte ich von meiner Heimat Serbien aus einem sehr persönlichen Blickwinkel erzählen. Von einem sehr konkreten Ausgangspunkt - dem Ort an dem ich lebe.", so das eindringliche Statement der Regisseurin Mila Turajlić. Gelungen ist dies der Filmemacherin allemal. Herausgekommen ist ein sehr außergewöhnlicher sowie intimer Dokumentarfilm, der es nicht ohne Grund unter die drei Finalist_innen des diesjährigen LUX-Filmpreises geschafft hat, der am 14. November 2018 vom Europäischen Parlament vergeben wird und Filme auszeichnet, die die Herausforderungen der heutigen europäischen Gesellschaft widerspiegeln.
Als sehr persönlicher Blickwinkel dient im Film ihre Mutter, ehemalige Mathematikprofessorin und aktives Mitglied der Widerstandsbewegung, die während der Bürgerkriege der 1990er Jahre als kritische Stimme gegen das Milošević-Regime zu einer öffentlichen Person wurde. In der großbürgerlichen familieneigenen Wohnung, deren eine Hälfte seit 70 Jahren durch eine fest verschlossene Tür unzugänglich ist, beginnt die Tochter, ihrer Mutter Fragen zu stellen. Die zugleich tiefgründigen und amüsanten Gespräche der beiden Frauen bieten einen umfassenden Einblick in die bewegte Geschichte eines zerrüttenden Landes mit all seinen Umbrüchen und politischen Veränderungen.
"Ganz Belgrad ähnelte einer geteilten Wohnung."
Rauchend und mit tiefer Stimme erzählt Srbijanka, wie mit der kommunistischen Machtergreifung nach dem Zweiten Weltkrieg die Familie enteignet und ihre Wohnung aufgeteilt wurde. Die verschlossene Tür symbolisiert hier sowohl die Spaltung der Gesellschaft unter Tito, als auch jene unter dem Diktator Slobodan Milošević. Sie versinnbildlicht die getrennten Räume derer, die die Vergangenheit neu schreiben und jener, die sie anerkennen wollen. Elegant gelingt der Regisseurin so der Wechsel von der sehr persönlichen Ebene zum historischen Zeitgeschehen. Um diesen zu stützen, werden die Wohnungsszenen immer wieder von Videoausschnitten unterbrochen, auf denen redenschwingende Politiker, demonstrierende Bürger_innen oder Gewaltexzesse auf den Straßen zu sehen sind.
Was ist die Verantwortung jeder Generation?
Genauso wenig, wie die verschlossene Türe nur zwei Wohnungen trennt, beschränkt sich das Porträt von Srbijanka Turajlić auf die in den 1990ern in Serbien stattfindende Demokratiebewegung. Vielmehr geht es um die politische Verantwortung jeder/jedes Einzelnen. "Wenn es jemand ändern muss, dann deine Generation", sagt Srbijanka am Ende des Films anlässlich der neuesten politischen Entwicklungen des Landes zu ihrer Tochter. Heute sind es serbische Rechte, die auf die Straße gehen und die Wahlen gewinnen. "Wir müssen dagegen aufstehen. Es ist deine Wahl. Aber jemand muss es tun."
AVIVA-Tipp: "Die andere Seite von allem" ist zum einen Femmage an die bedeutende Widerstandskämpferin und Intellektuelle Srbijanka Turajlić, zum anderen ein Weckruf für die immer wiederkehrende, schmerzliche Wiederholbarkeit der Geschichte und dem daraus resultierendem Zwang zu politischem Handeln. Dies gewinnt vor allem angesichts des gegenwärtigen Rechtsrucks in ganz Europa zunehmend an Aktualität.
Die andere Seite von allem
Serbien / Frankreich / Qatar 2017
Regie und Kamera: Mila Turajlić
Mit: Srbijanka Turajlić
Verleih: JIP Film & Verleih
Lauflänge: 104 Minuten
FSK: 6
Kinostart: 15.11.2018
Filmwebsite und Trailer: jip-film.de und www.facebook.com/dieandereSeitevonallem
Zur Regisseurin: Mila Turajlić wurde 1979 in Belgrad, Serbien geboren. Sie hat einen Abschluss in Politik und Internationalen Beziehungen der London School of Economics. Außerdem studierte sie Filmproduktion an der Fakultät für Dramatic Arts der Universität Belgrad, wobei sie sich später an der La Fémis, der größten und bedeutendsten Filmhochschule in Frankreich, auf Dokumentarfilme spezialisierte. Mila Turajlić ist Almuni von EURODOC, Berlin Talent Campus, Discovery Campus und lehrt zudem am Archivoc und dem Balkan Dokumentar Center. Seit 2005 ist sie Mitglied des "Magnificent Seven - European Feature Documentary Film Festival" in Belgrad sowie Gründerin und erste Präsidentin von DokSerbia, des Verbands der Dokumentarfilmmacher_innen in Serbien. Für ihren ersten Dokumentarfilm "Cinema Komunisto" (2010) gewann sie 2011 den Gold Hugo Award des Chicago International Film Festivals sowie den Alpe Adria Cinema Award des Trieste Film Festivals und viele mehr. Auch ihr neues Werk "Die andere Seite von allem" wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem IDFA Award für den besten Lang-Dokumentarfilm.
Weitere Infos zu Mila Turajlić unter: www.dissimila.rs und www.imdb.com
Zur Hauptdarstellerin: Srbijanka Turajlić kam 1946 in Belgrad, Serbien zur Welt. Sie war im nationalen jugoslavischen Team während der 6. Internationalen Mathematik Olympiade 1964 in Moskau. 1969 graduierte sie an der Fakultät für elektrotechnische Ingenieurwissenschaften in Belgrad und schloss 1973 mit einem Master ab. Von 1974 bis 1975 erhielt sie ein Stipendium der französischen Regierung und studierte in Grenoble. Ihren Doktorintitel erlangte sie 1979. Ab 1982 war sie Assistenz-Professorin. Von 1984 bis 1986 unterrichtete sie an der Universität in Monterey Kalifornien. Danach war sie Professorin an der Belgrader Fakultät für Elektrotechnik. 2011 ging sie in den Ruhestand. Sie wurde in 2009 mit dem "Osvajanje Slobode Awards der Maja Maršićević Tasić Foundation" ausgezeichnet. Dieser wird an Menschen verliehen, die sich im besonderen Maß für den Erhalt der Demokratie in Serbien engagiert haben. Sie zählt zu den 100 einflussreichsten Frauen in Serbien, die Liste wurde in der Zeitung Blic veröffentlicht. Nach dem Sturz von Slobodan Milošević am 5. Oktober 2000 war sie von 2001 bis 2005 stellvertretende Ministerin im Ministerium für Bildung und Sport in der ersten demokratischen Regierung. 2017 war sie Gründungsmitglied von Movement of Free Citizens angeführt von Sasa Jankovic.
Weitere Infos zu Srbijanka Turajlić unter: www.revolvy.com
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